Die Bindung an Volkskirchen schwindet, Mitgliederzahlen sinken. Die Osterholzer Superintendentin Jutta Rühlemann über die Herausforderungen und Zukunft der Kirche.
Die Bindung der Menschen an die großen Volkskirchen hat sich in den vergangenen Jahren gelockert. Mitgliederzahlen gehen zurück. Einnahmen reduzieren sich. Die Selbstverständlichkeit des Satzes „Kirche hat eine gesellschaftliche Bedeutung“ ist infrage gestellt.“ Wer wollte das bestreiten? Die leitenden Verantwortlichen in der Kirche wissen das.
Wen wundert es, dass in der öffentlichen Berichterstattung über die Zukunft der Kirche oftmals Fotos von leeren Kirchenbänken zu sehen sind. Ja, es gibt diese leeren Bänke. Wer ausschließlich diese Bilder sieht, fühlt sich bestätigt: „Kirche hat keine Zukunft.“
Und die anderen Bilder? Täglich begegnen sie einem, die Bilder einer lebendigen, vitalen Kirche: von fröhlichen Festen, von kirchlicher Begleitung bei vielen persönlichen Anlässen wie Taufen, Trauungen, Beerdigungen, von gut besuchten Gottesdiensten mit Musik an unterschiedlichsten Orten außerhalb der Kirchen. Es sind die Bilder vieler Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit: Sie werden begleitet in fundamentalen Lebenskrisen, wenn es für sie „ans Eingemachte geht“. Bilder von Vorständen, von anpackenden Helfenden: Ehrenamtliche und Hauptamtliche mit einer hohen Bereitschaft, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Sie strahlen Zuversicht aus, sind bereit, Menschen Zukunftshoffnung mit auf den Weg zu geben. Und man sieht auch ihre Erschöpfung, weil der Druck und die Erwartungen an Kirche stets steigen. Es gibt diese vielen verantwortungsvollen Mitarbeitenden, die vor den Krisen in der Kirche die Augen nicht verschließen, sondern sich an die Aufarbeitung und Weiterentwicklung machen.
Wer in der Kirche, in der Diakonie arbeitet, erlebt sie hautnah: die Krisengespräche angesichts von wachsenden gesellschaftlichen Herausforderungen, die Ratlosigkeit gegenüber zunehmenden Konflikten und angesichts der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft. Die Orientierungslosigkeit, weil es scheinbar keine tragfähigen Bilder mehr gibt von Zukunft, von Scheitern und Gelingen, von einem gesicherten Morgen. Es gibt die Bilder biblischer Geschichten, konzentrierte Glaubens- und Lebenserfahrungen, die wie ein Schatz über die Jahrhunderte an Bedeutung nichts verloren haben. Gerade in Krisenzeiten kommen sie zum Tragen. Kirche bietet Raum, Erfahrungen zu teilen. In ihrer Gestalt und Organisation wird sie sich stets ändern. Eine große Herausforderung, der sich Christen immer wieder stellen. Das Kleid ist zu groß geworden, es muss angepasst werden. Doch die Botschaft vom Vertrauen in eine Zukunft bleibt davon unberührt.
Zur Person
Jutta Rühlemann
ist seit 2003 Superintendentin im evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Osterholz-Scharmbeck und damit zuständig für 30 Pastoren, davor war sie selbst Gemeindepastorin. Darüber hinaus ist sie Vorstandsvorsitzende der Lilienthaler Diakonie.