"Keine einfachen Zeiten für unsere Kirche"

Pressemitteilung Osterholz-Scharmbeck, 16. März 2024
Margot Käßmann @Julia Baumgart Photography

Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), Margot Käßmann, predigt am 17. März in der Scharmbecker Kirche. Sie hat Antworten auf die Frage, "was der Mensch braucht". 

Frage: Sie predigen am Sonntag, 17. März, in der Scharmbecker Willehadi-Kirche. Ihr Thema lautet "Zukunft – was  braucht der Mensch?". Wie würde Ihre Antwort lauten, wenn Sie dafür nur einen einzigen Satz zur Verfügung hätten?

Margot Käßmann: Nahrung, Obdach, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, eine sinnvolle Tätigkeit und Vertrauen, Liebe, Beziehungen.

Sie beziehen sich in Ihrer Predigt auf den blinden Bettler aus dem Lukas-Evangelium, der wieder sehen kann, nachdem er Hilfe von Jesus erfleht hat.

An der Erzählung ist mir wichtig, dass Jesus nicht von oben herab dem Bittenden erklärt, was für ihn richtig ist. Er sieht ihn als Subjekt auf Augenhöhe und fragt ihn, was er braucht.

Auch die Kirche könnte in diesen Zeiten ein solches Wunder wie in Jericho gebrauchen. Der Mitgliederschwund schreitet unaufhaltsam voran. Stellen werden nicht mehr besetzt, Pläne  verstauben in den Schubladen. In Osterholz-Scharmbeck wurde aus finanziellen Gründen gerade der Bau des großen Kirchenzentrums beerdigt, einer Anker-Immobilie, die genau gegenüber jener Kirche entstanden wäre, in der der Gottesdienst mit Ihnen abgehalten wird.

Es sind gewiss keine einfachen Zeiten für unsere Kirche, und die vielen Austritte bedrücken mich. Wir brauchen doch gemeinsame Traditionen, Erzählungen, Lieder und Gebete. Mich tröstet, dass die Kirchen in der DDR in ihrer so kleinen Minderheitssituation eine so gewichtige Rolle gespielt haben als Ort der freien Rede, der Solidarität und Glaubwürdigkeit.

Die Kirche  gerät auch durch die aktuellen Kriege  unter Druck und kann hier keine klare Orientierung geben. Da sind die Theologen, die  sich der alten Friedensbewegung  weiterhin verbunden fühlen und in der Ukraine Frieden möglichst ohne Waffen schaffen wollen, aber es gibt auch solche wie Joachim Gauck, Pastor und Bundespräsident A. D., der Waffenlieferungen an die Ukraine sogar forcieren möchte. Sie selbst haben sich schon 2001 skeptisch über die Erfolgsaussichten des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr geäußert, und Sie gehörten  im Februar 2023 zu den Erstunterzeichnerinnen des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Manifests für Frieden, das eine "Eskalation der Waffenlieferungen" stoppen wollte. 

Mein Leben lang war ich Pazifistin, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Wende um 180 Grad, die manche vollzogen haben, die gestern noch gegen Rüstungsexporte waren und heute munter über Waffensysteme plaudern, finde ich schockierend. Es wird öffentlich nur noch über militärische Strategien gesprochen, statt endlich Diplomatie und Waffenstillstand als Ziel in den Vordergrund zu stellen. Als Christin ist mir Jesus der Orientierungspunkt, der nicht mit dem Schwert auf einem Pferd angeritten kam, sondern unbewaffnet auf einem Esel. Der dem, der ihn verteidigen wollte, sagte: Steck das Schwert an seinen Ort. Und mehr noch: Liebet eure Feinde. Das ist eine Provokation bis heute.

Luther soll stets betont haben, dass sich die Kirche der Reformation immer wieder reformieren muss. Finden Sie in seinen Schriften auch Empfehlungen, die auf die aktuelle Situation anzuwenden wären?

Luther hatte tiefes Gottvertrauen. Tröstlich und ermutigend finde ich seinen Satz: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachkommen werden ́s auch nicht sein, sondern, der ist ́s gewesen, ist ́s noch und wird ́s sein, der da sagt: ́Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt ́

Sie  sind seit 2018 offiziell im Ruhestand. Was machen Sie heute, wenn Sie gerade nicht predigen, Vorträge halten oder Bücher schreiben?

Nun, das nimmt schon großen Raum ein in meinem Leben. Vor allem aber sind meine sieben Enkelkinder präsent. Es ist ein großes Glück, sie beim Aufwachsen begleiten zu dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Das Interview führte Michael Schön (Osterholzer Kreisblatt)

 

Zur Person

Margot Käßmann (65)

war die erste Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags (1994), die erste Landesbischöfin (1999) und füllte mit dem Ratsvorsitz als erste Frau das höchste Amt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus. Ihre Fans füllten bei Kirchentagen große Hallen. Ratsvorsitzende der EKD blieb sie allerdings nur wenige Monate - bis zu ihrem spektakulären Rücktritt von allen kirchlichen Ämtern im Februar 2010.  Zuletzt als Botschafterin für das 500. Reformationsjubiläum im Einsatz, verabschiedete sie sich 2018 offiziell in den Ruhestand.