Ihren schlimmsten Tyrannen, wie sie ihren Kalender nennt, kann Kerstin Tönjes bald ignorieren. Dennoch fällt ihr das Loslassen nicht leicht. "Dieser Abschied tut mir wirklich weh", sagt sie. Am Reformationstag, 31. Oktober, hat die Diakonin der evangelischen Kirchengemeinde Grasberg ihren letzten Arbeitstag. Ihr offizieller Ruhestand beginnt am 1. Januar.
Im Moment sind die Tage vor allem damit gefüllt, das Büro auszuräumen. "38 Jahre einpacken, sortieren, wegwerfen und sich von Sachen trennen – das ist eine Menge Arbeit", sagt die 64-Jährige. Auch emotional. Zu sehr ist sie mit der Kirchengemeinde und den Menschen vor Ort verbunden. Aufgewachsen in Emden, studierte sie Religionspädagogik in Hannover und trat anschließend eine Stelle bei der Kirche in Osnabrück an. "Da bin ich klangvoll gescheitert, weil ich in wilder Ehe lebte, und da war ich da erst einmal durch mit dem Thema Kirche."
ÜBER UMWEGE NACH GRASBERG
Der Zufall brachte sie 1985 nach Osterholz-Scharmbeck, wo sie eine Vertretungsstelle übernahm. "Da öffnete sich mein Herz wieder für die Kirche", sagt sie. Sie lernte die damaligen Grasberger Pastoren Erich Franz und Volkhard Schwietering kennen, die ihr Grasberg schmackhaft machten. Nach der Geburt ihrer Tochter trat Kerstin Tönjes ihre Stelle als Diakonin im August 1986 an. "Gestartet bin ich mit Konfusunterricht und Kindergottesdiensten, die Arbeit mit Kindern lag hier damals am Boden", erinnert sich die Wilstedterin, die auch noch einen Sohn hat. Aber der Bedarf war da, sagt sie, kamen doch zum ersten Kindergottesdienst 29 Mädchen und Jungen.
Die Pastoren und der Kirchenvorstand hätten sie einfach machen lassen. Ein Prinzip, das sich über Jahrzehnte bewährt habe. "Ich brauche freie Hand, und ich brauche Mitspieler, dann kann es losgehen", fasst die scheidende Diakonin zusammen. Viele ihrer "Mitspieler" seien im Laufe der Jahre aus der Kinder- und Jugendarbeit herausgewachsen. "Und manchmal, wenn es richtig eng war, hatte ich das Gefühl, der liebe Gott schickt sie mir." Sie sei eine "Ermöglicherin", hätten ihr viele Menschen bescheinigt, sagt Tönjes.
ENTSCHLOSSEN UND ZUGEWANDT
Die Gleichstellungsbeauftragte der Gemeinde Grasberg, Evelin Meyer, mit der Tönjes vor rund 20 Jahren das Bündnis "Familienfreundliches Grasberg" ins Leben gerufen hat, kann das bestätigen. "Sie hat Entschlossenheit und Überzeugung mit in jedes Projekt gebracht, sie war nie zögerlich und hat immer gesagt: Das geht schon!". Besonders hebt Meyer Tönjes' Zugewandtheit den Menschen gegenüber hervor, ihre Herzlichkeit. "Es ist nicht zwingend so, dass die Menschen mit schweren Problemen den Weg zur Diakonin finden. Aber bei Kerstin ist einfach die Liebe zu den Menschen da." Zudem habe ihr Engagement "unheimlich viel Leben nach Grasberg gebracht". Der frühere Bürgermeister Heinrich Blanke habe sie mal als "Engel für Grasberg" bezeichnet, erinnert sich Meyer.
Menschen das Leben ermöglichen, durch Betreuungsangebote für Kinder oder durch Kleider- und Möbelspenden, sei ihr immer wichtig gewesen, erklärt die Diakonin. Als sich vor vielen Jahren eine Frau mit kleinen Kindern bei ihr meldete, deren Mann sie von jetzt auf gleich verlassen und zuvor noch die Einrichtung zerschlagen hatte, organisierte die Kirchenmitarbeiterin kurzfristig Hilfe. "So ist die Kleider- und Möbelbörse entstanden", berichtet Tönjes.
Vor allem die zahllosen Freizeiten mit Kindern, Jugendlichen, Konfirmanden und Familien sowie Seminare für Frauen seien ihr immer eine Herzensangelegenheit gewesen. Denn weit weg vom Alltag seien ganz andere Gespräche möglich. Überhaupt werden ihr diese intensiven Gespräche fehlen, sagt die Wilstedterin. Ebenso die Jugendlichen und "ihre frechen Ideen".
Nicht nur ihr fällt der Abschied schwer, auch der Kirchengemeinde wird sie fehlen. "Kerstin hat die Gabe, die Leute zu motivieren. Sie hat wahnsinnig viel aufgebaut und eine sehr lebendige Gemeinde geschaffen", sagt Pastor Thomas Riesebeck, der knapp zwölf Jahre mit ihr zusammengearbeitet hat. Allein die vielen Freizeiten, die sie organisiert und betreut habe – "das gibt es sonst kaum in der Region". Einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Kerstin Tönjes soll es auf jeden Fall geben. "Die Stelle ist ausgeschrieben."
RUHESTAND BEGINNT FRÜHER
Dass sie oft mehr gearbeitet hat, als es ihr Vertrag vorsah, hatte auch negative Auswirkungen. Ihre erste Ehe scheiterte, und vor vier Jahren erkrankte sie ernsthaft. "Ich bin an meine Grenzen gekommen", sagt Tönjes. Sie nahm sich eine lange Auszeit in einem Kloster. Auch die Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine hätten ihr körperlich stark zugesetzt. "Wir mussten das ganze System für die Unterbringung der Geflüchteten wieder hochfahren", erinnert sich die 64-Jährige. Das habe den Ausschlag gegeben, ein bisschen eher in den Ruhestand zu gehen.
Für die Zeit nach dem Berufsleben werde ihr künftig die Familie mit den Enkelkindern Struktur geben, auch wenn diese in Hamburg wohnen. Zudem wolle sie viel lernen und Interessierten die Selbsterfahrungsmethode "Walking In Your Shoes" näherbringen. Als Ehrenamtliche weiterhin aktiv in Grasberg, das komme nicht infrage, auch wenn sie immer wieder darauf angesprochen werde.
Am Reformationstag wird Tönjes um 15 Uhr mit einem Gottesdienst in der Kirche verabschiedet. Im Gemeindehaus gibt es im Anschluss Kaffee. "Ich bin aber nicht aus der Welt. Beim Adventszauber kann man sich auch noch von mir verabschieden", sagt Tönjes.
Von Sandra Bischoff (Weser Kurier)